Liebe Jori,
Du bist 19 Jahre alt und wirst in fünf Jahren über deine Erlebnisse mit sexualisierter Gewalt schreiben. Öffentlich. Es wird dir egal sein was die Leute denken, weil du weißt, dass du NICHT alleine damit bist. Sexistischer Kackscheiße hast du bis dahin ein für alle Mal den Kampf angesagt!
„Wir haben das Glück, uns über die Freiheit und Liebe Gedanken machen zu dürfen und die Kämpfe derer weiterzuführen, die damit angefangen haben, und wir sollten es tun. Wir tun es nicht nur für uns selbst. Ich habe in den dreißig Jahren, in denen ich lebe, schon an vieles geglaubt, an die Liebe und die Hoffnung und an einzelne Menschen und an mich selbst und jeden Glauben zwischendurch verloren und wiedergefunden. Ich habe an Gott geglaubt und daran, dass es Gott nicht gibt. Ich habe an Gedichte geglaubt und an Bilder, an Meditation und an Statistik, ans Fragen und ans Antworten. Ich habe an Einsamkeit und an Gemeinsamkeit geglaubt, an Schnaps und Musik und die Freiheit, und dann wieder auf die Fresse bekommen. Ich habe ans Aufstehen und ans Liegenbleiben geglaubt, an die Ruhe und an den Sturm, und ich weiß nicht, was noch kommt und woran ich in meinem Leben noch glauben werde, aber ganz sicher niemals ans Schweigen.“ ( S.230 aus: Untenrum frei, von Margarete Stokowski)
Ende Januar 2019 wirst du bei einem Poetry Slam auf der Bühne stehen und zum ersten Mal diese Geschichte vortragen. Es ist deine Geschichte und doch ist sie auch die Geschichte von so vielen Frauen* und Männern* die Ähnliches erlebt haben. Es geht um eigene Grenzen und um das Gefühl „funktionieren“ zu müssen. Das betrifft uns alle! Dein Text wird andere zum Nachdenken bringen. Nach dem Poetry Slam werden Menschen auf dich zukommen und ihre eigene Geschichte mit dir teilen. Du bist nicht alleine, glaub mir.
Du bist mutig und stark! Vergiss das nie.
Deine Jori (24)
Der Poetry Slam Text „Waldspaziergang“ ist hier zu hören
Ein kleiner Auszug aus dem Text:
(…) Sexualisierte Gewalt? JA, aber…
Ich habe ja nicht nein gesagt, ich habe nicht nach dir getreten, bin nicht weggelaufen. TROTZDEM.
Der Ekel bleibt, die Scham das gemacht und erlebt zu haben.
Über die Jahre verdränge ich, so gut, dass ich heute fast vergessen habe wie du aussiehst.
Du warst nicht bedrohlich, das ist ja das verrückte, aber damals im Wald habe ich gefühlt, dass ich keine Wahl habe, dass es genau so normal ist und dass ich funktionieren muss.
Heute kommt Wut in mir hoch, wenn ich an dich denke, wie du mich an der Hand durch den Wald geführt hast.
„Willst du mir einen blasen?“, fragst du so als ob du sagst: „Willst du mir die Schnürsenkel binden?“ „Willst du auch einen Kaugummi?“ „Willst du was essen?“
Verdammt. Das ist doch nichts was man bestellt, was man einfordert und sich „machen lässt“.
Wenn ich höre wie manche Witze darüber reißen, denke ich innerlich: Bitte, bitte hört auf damit! Doch diese Gedanken sind so leise, dass sie wie mein Murmeln damals im Wald verschwinden.
Hör auf. Hör auf. Hör auf.
HÖR AUF! Sage ich zu mir selber, hör verdammt noch mal auf dich dafür zu schämen! Fünf Jahre nach diesem Waldspaziergang teile ich nun diesen Text.
Nicht weil ich ein Opfer bin, nicht weil ich Mitleid will, darum geht es mir nicht. Ich will Mut machen solche Geschichten zu teilen, Mut machen, dass man sich NIEMALS dafür schämen muss. Ich bin mir sicher, dass irgendjemand hier etwas Ähnliches erlebt hat. Du bist nicht alleine und bitte, bitte schäm dich nicht!
Scham ist ein giftiges Gefühl und ich stehe hier nur, weil ich möchte, dass wir uns alle ein bisschen weniger schämen vor uns selber, vor unseren Partner*innen oder Freund*innen. Mit meinen eigenen Geschichten möchte ich ein Beispiel dafür geben, dass es sehr wohl möglich ist gegen die Scham anzukämpfen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns allen besser gehen würde ohne Tabus in unserem Leben. Es macht stark, wenn man Geschichten teilt, die man sich nie getraut hat zu erzählen.
Wie Hannah Gadsby sagte: “Nothing is stronger than a broken woman, who has rebuilt herself.”
Blumenbild als kleine Aufheiterung zwischendurch *uffschnuufe*
Danke für diese Nachricht, die mich vor kurzem erreicht hat und sicher vielen anderen genauso viel Mut macht wie mir:
Was deine Worte, die Wake-Up Comedy, der Poetry Slam Text, Positives in anderen auslösen und wie viel internalisierte Scham sie durchbrechen, ist vielleicht nicht immer sofort sichtbar und greifbar – doch es ist sowas von da! Ich denke da an die Stille, als du Waldspaziergang beim Slam vorgetragen hast, an den riesigen Applaus, der so viel ausgedrückt hat, finde ich. An die Gespräche, die ich mit Freundinnen danach geführt habe, wenn ich von dem Slam, oder der Wake Up Comedy erzählt habe oder neulich, als eine Freundin von deinem Beitrag über die Klitoris erzählt hat und dein geflügeltes Einhorn für andere zur Erklärung aufgemalt hat. Was du machst, hat echt eine enorme Wirkung und es ist so wichtig und genial, dass du es machst – wenn auch sicher nicht immer einfach. Ich hoffe, das ein bisschen zu hören hilft in Momenten, in denen man mit negativem konfrontiert ist. Ich habe mehrmals gedacht: „Wow, was für ein krasser Enthusiasmus, was für eine Stärke zu so viel Offenheit zu kommen und so all diese Scham zu überwinden, die man irgendwie internalisiert hat.“
Wir müssen darüber reden!
Waldspaziergang zu veröffentlichen war ein riesengroßer Schritt für mich. Von der Geschichte wusste fünf Jahre lang niemand, bevor ich sie in Textform aufgeschrieben habe. Mittlerweile habe ich begriffen, dass die Klitoris nicht nur mit Lust zusammenhängt, sondern auch mit Schmerz und mit sexualisierter Gewalt. Diese Themen sind so eng miteinander verknüpft und durch klebrige Scham bewegungslos gemacht. Deshalb sage ich JA zur Klitoris und NEIN zur sexistischen Kackscheiße!
Keine Schuld, keine Scham, kein Tabu!
Wie wollen wir über Missbrauch reden, wenn das Thema Sexualität tabu ist? Wie ist es möglich, dass sogar auf Freiburger Kleinkunstbühnen Witze mit der Pointe „(…) dass du mir endlich einen bläst“ gerissen werden und man dafür auch noch einen Preis (den ersten Preis!) bekommt? Ich habe keinen Bock mehr auf sexistische Kackscheiße! „Du hättest ja nein sagen können.“ „Du hättest halt aufpassen müssen.“ NEIN! Was für Sätze man nicht hören möchte, fasst Luisa prima zusammen. Unter dem Motto: Keine Schuld, keine Scham, kein Tabu! hat sie eine ganze Reihe an sehenswerten YouTube Videos gemacht:
Sexualisierte Gewalt: „Du kannst ja nichts dafür Einzelkind zu sein. Wäre es dir passiert, wenn du Brüder hättest?“ 🤔
Diese Nachricht erreichte mich erst kürzlich und bringt mich zum Nachdenken. Nein. Ich bin mir leider sicher, dass es jeder und jedem passieren kann. Dafür habe ich viel zu viele Geschichten gehört. Das macht doch keinen Sinn, nur weil man Brüder hat, kann man doch trotzdem Grenzverletzungen erleben.
Diese Nachricht macht mich traurig, denn es hat verdammt viel Mut gekostet meine Geschichte online zu veröffentlichen. Ich habe acht Monate lang darüber nachgedacht und es nur gemacht um zu zeigen:
Es geht uns alle an! Es betrifft uns ALLE!
Sexualisierte Gewalt findet auch in Beziehungen, oder in Familien statt, nicht nur wie in dem beschriebenen Waldspaziergang. Ich zwinge ja niemanden eigene Geschichten zu veröffentlichen, aber mir zu sagen, dass wäre nicht passiert wenn ich Brüder gehabt hätte, ist absolut daneben.
Es ist sehr, sehr einfach über andere zu urteilen: Ich hätte nein gesagt/ Mir wäre das nicht passiert/ Ich wäre weg gegangen.“ Das bringt uns kein Stück weiter, sondern macht Erlebende von sexualisierter Gewalt nur noch mehr zu „Opfern“, die sich anders hätten verhalten sollen.
Ich bin Mensch, ob mit oder ohne Brüder und es wird immer andere Menschen geben, die meine Grenzen verletzen.
Ich habe sehr viel aus der Erfahrung, die ich in Waldspaziergang gemacht habe gelernt, aber ich würde niemals behaupten, dass mir sexualisierte Gewalt nie mehr passieren wird oder kann. Das ist leider nicht die Realität.
#schweigenbrechen
Celebrating diversity! The future is inclusive
Es tut sich was, in mir und in allen anderen. „Celebrating diversity! The future is inclusive“, sagt Hilde Atalanta in ihrem Video zur Vulva Vielfalt. Das hört sich doch nach einem Plan an!